Als meine Reise vor 309 Tagen begann, hatte ich am meisten Bammel vor dem Stress, mich alleine durch die Welt schlagen zu müssen.
Ich hatte (zum Glück) keine genaue Vorstellung davon, wie sich die 11 Monate Weltreise entwickeln würden. Ganz ehrlich – ich hatte eine rosa Brille auf und romantisierte mein Abenteuer. Würde ich erstmal im Flieger sitzen, würden sich all meine Probleme und Zweifel lösen, ich würde meine Schüchternheit überwinden und nebenbei vielleicht noch den Weltfrieden entdecken.
Ich dachte, die Reiserei mit ihren Unterkunftswechseln, Transfers, Logistik, Buchungen und meine Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein wäre meine große Herausforderung.
Würde ich das alles bewältigen? Kann ich mich tatsächlich alleine durchschlagen?
Natürlich kann ich das, so wie unzählige Frauen vor mir!
(… an dieser Stelle sei nebenbei gesagt: Wenn ich es kann, dann kann es JEDE von euch!)
Ich würde sagen, nach den ersten 4 Monaten (Dominikanische Republik, USA, Japan und Südkorea) hatte ich den Bogen der Planung raus. Mein Selbstbewusstsein war noch nie so groß. Mein Bauchgefühl auf die Reise geschärft. Denn im Endeffekt ist eine Weltreise auch nur ein langer Urlaub! Das Reisen wurde zu meinem neuen Alltag:
- Wo ich früher routiniert in die Arbeit radelte, ging ich nun zum Flughafen oder Bahnhof.
- Mein Schreibtisch wurde zu Starbucks Cafés auf der ganzen Welt.
- Meine Kantine waren Garküchen und Foodcourts.
- Mein Bett wechselte jede Nacht, aber Hotels, Hostels, AirBnB oder ein Campervan sind auch nur ein Platz zum Schlafen.
Ich wusste genau, worauf ich beim Reisen achten muss. Wie ich für mich am besten plane und buche. Hotelwechsel, Einreise, Flughäfen und das (gottverdammte) ständige Ein- und Auspacken waren kein Anlass mehr um aufgeregt zu sein. Wo ich vorher schon einigermaßen selbstständig war, bin ich nun ein proaktiver Arschtreter!
Aber was ist dann die wahre Herausforderung meiner Weltreise?!
Oh Gott, ich weiß, das klingt wie das schleimigste Klischee aller Zeiten, aber:
Die wahre Herausforderung meiner Reise war es, mich selbst kennen zu lernen und zu akzeptieren.
Bevor ihr die Augen verdreht und auf das kleine x rechts oben klickt – habt Nachsicht!
Überlegt mal:
Die meisten von uns bedienen seit wir denken können bestimmte Rollen. Von der Schule zum Job zur Familie zu Freunden zu Hobbies. Wir haben ein festes Gerüst an Routinen im Alltag und definieren uns über
- Eigenschaften (ich bin introvertiert)
- Beziehungen (ich bin Tochter)
- Hobbies (ich bin Bloggerin)
- Job (ich arbeite im Büro)
Was aber, wenn sich aaaaaaall diese Definitionen plötzlich in Luft auflösen? Wenn ich aus meinem Netz mit allen Verknüpfungen aussteige?
Wenn ich komplett ohne Kontext bin? Wer ist denn eigentlich Carina und was treibt sie an?
Stellt euch vor, ihr gewinnt im Lotto. Ihr wacht morgen auf und müsst GAR NICHTS. Ihr könnt euer Leben so gestalten, wie ihr es möchtet. Klingt fantastisch, oder?
Für mich war dieses ziellose Rudern, dieser Identitätsverlust, unglaublich schwierig. Sämtliche Ängste, unterdrückte Charakterzüge, unliebsame Vorlieben und hässliche Gedanken spülten an die Oberfläche. Die ersten Monate konnte ich das alles noch mit Sightseeing, neuen Städten und neuen Eindrücken unterdrücken. Aber wenn man 5 Wasserfälle pro Woche sieht, lässt auch ihr Zauber irgendwann nach. Genau so, wenn Lottogewinner die 5. Chanel Handtasche kaufen. Irgendwann sehnt man sich nach mehr. Mehr Sinn.
All das, was ich vorher wunderbar mit Büroarbeit, Hausarbeit, Bloggen, Einkaufen unterdrücken konnte, traf mich mit voller Wucht.
Ich musste mich jeden Tag mit mir auseinandersetzen. Mit allen Aspekten meines Charakters. Keine Ablenkung mehr, sondern ein ganz tiefer Blick in jede noch so unbequeme Facette meiner selbst.
Eine Leserin schrieb mir mal: „Ich bewundere es, dass du es so lange mit dir selbst aushältst.“
In der Tat war es nicht einfach. Es gab Tage, da konnte ich mich nicht ausstehen. Ich erwartete bestimmte Dinge von mir, die ich nicht erfüllen konnte. Ich forderte mich heraus und war enttäuscht, wenn ich scheiterte.
Ganz langsam, Schritt für Schritt lernte ich aber, besser auf mich zu hören. Ich wurde liebevoller zu mir selbst und begann, mich zu akzeptieren. Das klingt alles so esoterisch und wischiwaschi, deshalb hier ein paar konkrete Dinge, die ich über die letzten 11 Monate aufgearbeitet habe:
- Meine Essstörung
- Meine Angst vor dem Alleinsein
- Meine Angst vor Langeweile, Nichtstun und Unproduktivität
- Was mir im Leben tatsächlich Spaß macht (Kreativität, Fotografieren, Natur, Bloggen, Berge, Lesen, Sonne, Waldspaziergänge…)
- Was ich nicht bin (Partygirl, Strandfaulenzer, extrovertiert…)
- Meine wichtigsten Werte (Unabhängigkeit, Gleichberechtigung, Familie, Freiheit, Fairness)
- Meine Angst vor Linksverkehr (Mein Truck Horsti lässt grüßen!)
Das größte Privileg ist für mich, dass ich diese 11 Monate Auszeit nehmen konnte, um mich selbst kennen zu lernen. Ich weiß, dass die meisten Menschen diese Chance erst sehr spät (Rente) oder gar nicht bekommen. Deshalb bin ich umso dankbarer für meinen hart erarbeiteten Lottogewinn!
10 Lektionen der ersten 10 Tage Weltreise
All die Erfahrungen, die ich 2019 machen durfte, haben mich verändert, mich stärker und gleichzeitig weicher gemacht.
Fotos: Wai-O-Tapu Geothermalpark in Neuseeland
24 Kommentare
Danke für den Einblick, Carina. Mir würde der Wegfall jeglicher Routine sehr schwer fallen.
Da reise ich lieber ein wenig mit Dir um die Welt :-)
Was nicht heißt, dass ich keine Routinen auf Reisen entwickelt habe. Ich bin ein Mensch, der das braucht ;)
Du kannst wirklich stolz auf dich sein! Erstens weil du es geschafft hast diese Erkenntnis für dich zu erlangen- was kein Spaziergang ist – und den Mut das mit uns zu teilen. Herzlichen Glückwunsch und einen guten Start ins neue alte Leben 😃 Übrigens habe ich fast geheult als mir der Polizist bei der Einreise Willkommen zurück gesagt hat, nicht bei der Rewe Kassiererin 😅
Oh Gott, ich heule schon los, wenn ich nur an den Münchner Flughafen denke :D wahrscheinlich weine ich den ganzen Rückflug über!
Glückwunsch zu deiner Ehrlichkeit und der schmerzhaften, überstandenen Metamorphose!
Merci :)
Liebe Carina,
ich freue mich so sehr für Dich, dass diese Reise eine Reise zu Dir selbst geworden ist. Und es ist weder esoterisch noch wischiwaschi, sondern das größte Geschenk was einem Menschen widerfahren kann, wenn man diese Erkenntnisse in so kurzer Zeit für sich erfahren und für sein weiteres Leben festhalten kann.
Wie Du schon schreibst, viele Menschen haben die Möglichkeit gar nicht. Ich bin z. Bsp. schon viele Jahre wegen div. Traumata in Therapie um unter anderem auch das herauszufinden. Denn ich habe tatsächlich nichts in meinem Alltag über das ich mich definieren könnte. Kein Job den ich wegen meiner Erkrankungen nachgehen kann, kein Hobby für das ich brenne. Ich bin also häufig mit „me, myself and I“ beschäftigt und das ist manchmal ganz schön schmerzhaft.
Also ich finde, dass deine Erkenntnis und Dein „Dichkennenlernen“ das beste Ergebnis ist , das Du mit Deiner Weltreise haben kannst und ich bejubel Dich dafür.
Alles Gute, Tanja 🌞
Tausend Dank liebe Tanja!
Aber so schmerzhaft es manchmal ist, ist die Zeit mit Me, Myself and I kostbarer als alles andere!
Wow, da hast du ja wirklich sehr viel in den 11 Monaten gelernt und ich freue mich dass du einige Baustellen aufarbeiten konntest. Aktuell befinde ich mich in einer Lebensphase, in der ich nicht mehr weiß, wer ich bin, wie ich damit umgehe, was ich will, wie von meiner Vergangenheit loslasse und ob das, was ich gerade tue überhaupt zu mir passt. Da sich Arbeit und Hobbies überhaupt nicht miteinander kombinieren ließen und ich viele Monate lang keine Ersazubeschäftigung gefunden habe, habe ich meine Hobbies aufgegeben. Das fühlte sich über sechs Monate lang genauso falsch wie richtig an, mittlerweile sehe ich es lockerer, aber zufriedener bin ich nicht. Zwei Wochen Urlaub konnten mir nicht die Energie geben, die ich über all die Jahre verloren habe. Außerdem bin ich mit meinen Fragen kaum voran gekommen, vielmehr breitet sich immer mehr Verwirrung aus.
Braucht man wirklich mehrere Monate lang einen vollkommen fremden Ort oder eine vollkommen fremde Beschäftigung um über sein Leben zu sinnieren?
Ist es überhaupt gut, sich so intensiv mit sich selbst zu beschäftigen?
Also für mich war es gut, mich mal bis auf die Grundfesten zu hinterfragen. Ich glaube nicht, dass ich das gemacht hätte, während ich im Alltag gefangen bin. Trotzdem ist es natürlich ein absolutes Privileg, so lange Auszeit nehmen zu können und kaum einer bekommt diese Chance.
Aber sich über sich selbst Gedanken zu machen kann man an jedem Ort und in jeder Lebenslage. Man braucht aber die richtige Motivation und Einstellung dafür. Die fand ich leichter „on the road“, als in meiner Münchner Wohnung.
Was ich auch glaube ist, dass wir uns zu sehr in bestimmte Rollen drängen lassen. Es ist doch toll, dass deine Hobbies fern deiner Arbeit sind! Ist bei mir genau so. Jeder Mensch hat zig Facetten, die sich teilweise völlig unterscheiden. Aber wir sehen uns dazu gezwungen, in einer Linie zu bleiben und bestimmte Klischees zu erfüllen. Ich kann mittlerweile all meine Facetten akzeptieren und dafür bin ich dankbar!
Toll geschrieben! Vielleicht magst du das nachfolgende Gedicht.
LG, Alexandra
Bitte
von Hilde Domin
Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut
Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht
Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden
und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.
Hilde Domin, Bitte.
Aus: dies., Gesammelte Gedichte.
Copyright: S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987
Danke Alexandra für das wunderschöne Gedicht!
Zu wissen wer man selbst ist und welche Dinge einem wichtig sind ist nicht ganz einfach herauszufinden. Toll, wenn Du es auf diese Art und Weise geschafft hast.
Das war es!! Danke dir, freu mich schon auf unseren Brunch!
Schön geschrieben!
<3
Danke liebe Luna :)
[…] Die größte Herausforderung des Alleinreisens […]
Schön geschrieben. Die Fotos sind atemberaubend! Ein paar schöne letzte Tage in Neuseeland wünsche ich Dir.
Liebe Grüße
Nancy :)
Merci :)
Ich liebe diesen Blogartikel! Es ist so beeindruckend, was du alles erlebt hast und besonders wie sehr du dich selbst kennengelernt hast. Danke, dass du uns auf deine Reise mitgenommen hast und einen guten Heimflug!
Vielen Dank liebe Christina!
Eine tolle Essenz aus dem riesigen Abenteuer Weltreise!!! Und alles, aber bestimmt nicht wischiwaschi!!!
Liebste Grüße
Bine
Vielen Dank liebe Sabine!
[…] Die wahre Herausforderung des Alleinreisens […]